Zeitgenössische japanische Fiktionen des Ich: Avantgarde einer „Weltliteratur“
Im Rahmen einer weltliterarischen Sichtung wäre es wohl nicht falsch zu behaupten, dass in der japanischen Literatur – gerade was die letzten zwei, drei Dekaden anbelangt – zahlreiche bemerkenswerte „Ich-Konstruktionen“, d.h. Fiktionalisierungen einer zeitgeist-gemäßen Ich-Persona, entstanden sind: War für die 1990er noch partiell das „Moratoriums-Ich“ eines Murakami Haruki 村上春樹 (*1949) prägend, rückte zugleich das gefährdete „prekäre Ich“ der Post-Bubble- und der Reform-Ära unter der Regierung Koizumi in den Fokus japanischer Autoren und Autorinnen.
Made in Japan: Im Zeichen kapitalistischer Zurichtungen
Nachhaltig beeindrucken konnte zum Beispiel Kuroda Akiras 黒田晶 (*1977) Schilderung der Radikalisierung japanischer Jugendlicher; die Protagonisten aus Made in Japan (2000) haben als Kinder den Auslandseinsatz ihrer Väter an der internationalen Wirtschaftsfront begleitet und zeichnen sich nun durch extreme Verrohung aus. Der punktgenau zur Jahrtausendwende veröffentlichte Text kommentiert die globalisierten Machtstrukturen und hinterlässt die Botschaft des puren Nihilismus in einer sinister dekadenten Welt der Aneignung, Ausbeutung und Zerstörung. Made in Japan steht für eine Reihe von literarischen Repräsentationen zeitgeschichtlich-sozialpsychologischer Diagnosen. Während Kuroda Wohlstandsverwahrlosung und Sadismus einer von Amerika dominierten Elite in Szene setzt, widmen sich andere Arbeiten dem „prekären Ich“ und seinen Nöten im neoliberal gelenkten Japan zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Die Nonchalance eines Murakami-Helden, dessen Weltauffassung man spätestens 1995 im Lichte von Erdbeben und AUM-Anschlag die Gültigkeit abspricht, gilt längst als Retrogeste. Ressentiment prägt seither die Charaktere, die als Freeter, NEETs oder Hikikomori Abstiegs-ängste, Minderwertigkeitsgefühle, Vereinsamung und Beklemmungen plagen. „Bubblonia“, das „Land der großen Seifenblase“ (Kirino Natsuo), erscheint keineswegs als ein vom Glück begünstigter Ort, wenn z.B. Kawakami Mieko 川上未映子 (*1976) das "dunkle Japan" der Heisei-Zeit portraitiert, in dem das Paradies so fern rückt, dass man es, wie es ihr jüngst ins Deutsche übersetzter Roman Heaven schildert, kaum je erreicht.
Krisen und Transformationen bis ins Post-Anthropozän
Erkunden manche Werke der 2000er Jahre im wesentlichen Fragen der Selbstfindung und der Identität, verlangt der Buchmarkt nach der Dreifachkatastrophe von Fukushima noch ausgeprägter bibliotherapeutisch angelegte Texte im iyashi (Heilungs)-Modus. Im Gefolge von „3.11“ behauptet zum einen das Trostmoment seinen hohen Stellenwert, zum anderen wäre eine politisch oder philosophisch orientierte Unterströmung zu registrieren, die sich mit der Problematik der Verantwortlichkeit in Bezug auf die atomare Havarie sowie mit Post-Desaster-Lebensmodellen befasst. In letzterem Fall berichtet in Hangenki wo iwatte (2016) die fiktionalisierte Persona der Literatin Tsushima Yûko 津島里子 (1947-2016) vom Umschwung einer einst fast freiheitlichen japanischen Gesellschaft in einen neo-totalitären Staat, während Kawakami Hiromi 川上弘美 (*1958) im mit Denkfiguren des Biopolitischen angereicherten Roman Ôkina tori ni sarawarenai yô ni (2016) das Bewusstsein des Einzelnen in KI-Einheiten und (eher traurigen) Klonen entindividualisiert und zudem voraussagt, dass der Homo sapiens als solcher und mit ihm sein notorisches Ego in den kommenden Jahrhunderten von der Erde verschwinden oder sich zumindest in Transspezies-Mischformen aufgelöst haben wird. Jenes transhumanistische Ich einer schönen neuen Welt, dessen Identität zwischen Mensch und KI-Wesen nicht mehr ganz klar erscheint, erörtert auch der hierzulande noch wenig bekannte Autor Shiraishi Kazufumi 白石一文 (*1958) in der Erzählung Stand-in Companion, die Ende der 2010er publiziert wurde; der Beitrag lässt den japanischen Trend zur Partnerlosigkeit und Vereinzelung erahnen, den eine Agentur vor kurzem als Hypersolo-Gesellschaft bezeichnete.
Demontagen und Täuschungen
Das „vereinsamte Ich“ der Hypersolo-Epoche bleibt isoliert in einer Sozialstruktur, die zunehmend nicht für vertieften zwischenmenschlichen Kontakt gemacht scheint – entweder aufgrund ihrer tayloristischen Taktung des Humankapitals wie es etwa in Murata Sayakas
村田沙耶香 (*1979) Konbini ningen (2016) thematisiert wird oder durch den Anspruch steter Kontrolle des Einzelnen, ob sich seine Handlungen mit den Interessen des Kollektivs vereinbaren lassen – Muratas kannibalistische Gewaltphantasie Chikyû seijin (2018) dient hier als neueres Beispiel für ein anarchistisches Gegenmodell zur zutiefst übergriffigen autoritär-patriarchalischen Gemeinschaft, die die Grenzen des Individuums nicht anerkennen will; der Rückfall in eine pathologische Primitivität meint eine letzte Selbst-behauptung des eingeschränkten unterdrückten Ich, dessen wahnsinnige Aktionen gleichsam den Wahnsinn des „Systems“ entblößen.
Einen originellen Ansatz zur Diskussion des Status des Weiblichen und zum weiblichen Körper, den ein in den Werken abgebildeter Staat offenbar nach wie vor als tayloristisch wie sexuell verfügbar betrachtet, legt die einunddreißigjährige Debütantin Yagi Emi 八木詠美 vor; ihr Roman Kûshin techô 空芯手帳 (2020), der im Oktober 2021 in deutscher Übersetzung erschienen ist, beschreibt eine Fake-Schwangerschaft. Yagi entwirft ein Sozialexperiment, mit dem sie die Protagonistin Shibata auf einer assoziativen Ebene eine (ziemlich legere) "Imitatio Mariae" vollziehen, sie im persönlichen Alltag aber Anschluss an andere werdende Mütter finden lässt. Shibatas Plan stellt einen Minimalprotest dar, dessen Energien den Weg aus der Isolation heraus hin zur Selbstbehauptung ebnen; am Ende hat die Angestellte es gelernt, die Misogynie der männlichen Arbeitskultur zumindest in Teilen zu überwinden.
Potential und Propositionalität
Mit der Nachempfindung von Hagiographien schließt sich der Kreis gegenwärtiger Ich-Konstruktionen zurück zur literarischen Moderne, in der man auch in Japan Gottheiten als Persönlichkeitsmodelle verstand und sich Schriftsteller wie Akutagawa Ryûnosuke 芥川
龍之介 (1892-1927), Dazai Osamu 太宰 治 (1909 -1948) und Hagiwara Sakutarô 萩原朔太郎 (1886-1942) auf dem Christusweg (Imitatio Christi) erprobten.
Die Potentiale zeitgenössischer japanischer Literatur und ihrer Bilder vom menschlichen Selbst liegen in ihrer „Restfremdheit“, die sie von westlichen Textwelten und ihren philosophischen oder ideologischen Axiomen unterscheidet; sie beinhaltet das Moment der alternativen Propositionalität, d.h. es wäre mit ihr möglich, zum Zwecke des allgemeinen Erkenntnisgewinns im Hinblick auf Humanpsychologie und Zukunftsvisionen andere Optionen für Sachverhalte durchzuspielen, als sie westliche Entwürfe von Mensch und Umwelt zur Diskussion stellen.
Lisette Gebhardt
November 2021
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