top of page

JALI Interview mit Ursula Gräfe

Updated: Apr 2, 2020

JALI


Auch in Japan gewürdigt

Es gibt Bedarf an Experten für die japanische Literatur - Die Noma-Preisträgerin Ursula Gräfe im Gespräch

Aktuell ist in der Bildungspolitik die Rede von „kleinen“, weniger nützlichen Fächern. Man steht den Philologien insgesamt eher skeptisch gegenüber, obwohl das wie in Ihrem Fall ersichtlich, oft nicht gerechtfertigt ist. Haben Sie je bereut, Japanologie studiert zu haben und Übersetzerin japanischer Literatur geworden zu sein?  

Gräfe: Nein, gar nicht, auch wenn zu meiner Zeit die Aussichten, mit einem geisteswissenschaftlichen Magister Karriere im Kulturbetrieb zu machen, auch nicht so hoch waren. Meines Erachtens gibt heute wie damals die persönliche Neigung und die daraus folgende Motivation den Ausschlag. Es erscheint mir sogar riskant, in der Hoffnung auf z. B. finanzielle Absicherung ein „nützliches“ Fach zu studieren und damit sein ganzes Leben, denn darum geht es ja letztendlich, einer rein praktischen Entscheidung unterzuordnen. 


Sie haben während der Buchmesse letztes Jahr einen großen japanischen Übersetzerpreis erhalten. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

Gräfe: Natürlich sehr viel. Abgesehen von der großen Ehre ist der Preis auch eine Bestätigung, dass es kein Fehler war, ein Orchideenfach und zwei weitere Philologien, Anglistik und Amerikanistik, zu studieren. Ich habe mich über die Maßen gefreut, auf diesem Weg zu erfahren, dass unsere Arbeit – meine Kollegin, die Ôe-Übersetzerin Nora Bierich hat die gleiche Auszeichnung erhalten – in Japan so stark wahrgenommen und auch gewürdigt wird. Und es war schön, dass so viele Gäste „vom Fach“ bei der Verleihung anwesend waren. Tatsächlich verspüre ich noch immer so etwas wie einen „Afterglow“.


Seit einiger Zeit hat der deutsche Buchmarkt Titel aus Japan entdeckt, die nicht der japanischen Literatur zuzurechnen sind, die man bislang kannte. Kommt eventuell gerade diese neue Literatur aus Japan auf dem deutschsprachigen Buchmarkt gut an? Z.B. Texte wie die von Sukegawa Durian oder Arikawa Hiros und Kawamura Genkis „Katzenliteratur“?  

Gräfe: Alle diese Romane thematisieren die Sehnsucht nach den wahren Werten des Lebens und schildern eine Wirklichkeit jenseits der digitalen Glitzerwelten. Die Hauptfiguren sind ausnahmslos schräge, liebenswerte Charaktere, meist sogenannte „Verlierer“, einsam oder gar todkrank. Attraktiv für westliche Leser ist sicher auch der Einblick in japanisches Leben an den Rändern der Gesellschaft, an denen diese Außenseiter ein ärmliches Dasein führen, eine Problematik, die auch hierzulande zunehmend an Brisanz gewinnt. Auch der Erfolg des Films 万引き家族 (Manbiki kazoku, Shoplifters, 2018) von Koreeda Hirokazu in Europa bestätigt diesen Trend. Interessant ist, dass die genannten Autoren keine oder nur eine sehr milde Form der Gesellschaftskritik üben, sondern eher tröstliche Lösungen anbieten. Das nostalgische Lokalkolorit und die melancholische Aura der Protagonisten tun ihr Übriges.


Als bekannte Übersetzerin können Sie sicher die Anfragen von Verlagen für die Übertragung japanischer Bücher kaum bewältigen. Denken Sie, es fehlt der Nachwuchs? Und wenn ja, warum?

Gräfe: Tatsächlich besteht Bedarf nicht nur an Übersetzern, sondern insgesamt auch an Experten, die japanische literarische Werke lesen und bewerten können. Ein Problem ist definitiv der Zeitdruck, unter dem heutzutage Bücher produziert werden. Für Verlage ist es oft gar nicht so leicht, geeignete Gutachter und Übersetzer zu finden, also greift man – häufig auch aus Zeitmangel – immer wieder auf bewährtes Personal zurück. Das heißt, ein angehender Übersetzer braucht sehr viel Eigeninitiative, um überhaupt Zugang zum Literaturbetrieb zu erhalten. Anders als beim literarischen Übersetzen aus europäischen Sprachen hat er, wie wir alle wissen, noch sehr viel mehr mit seiner Sprachkompetenz an sich zu kämpfen und braucht entsprechend viele, viele Stunden, um einen japanischen Roman in gut lesbares Deutsch zu übertragen, auch wenn der Text nicht unbedingt sehr schwierig ist. So herrscht besonders am Anfang ein starkes Ungleichgewicht zwischen Arbeitszeit und Honorar. Es gibt definitiv eine Durststrecke, bis eine gewisse Routine erlangt ist. 


Die aktuelle japanische Literaturszene hat in der Tat einiges zu bieten. Vor kurzem ist hierzulande die Autorin Sayaka Murata entdeckt worden. Das Buch „Die Ladenhüterin“ war ein großer Erfolg. Wie erklären Sie sich, dass man Murata so schätzt?

Gräfe: Mit Die Ladenhüterin (コンビニ人間, Konbini ningen) ist Sayaka Murata eine witzige, symbolträchtige Satire auf das Frauenbild und die Ansprüche einer Gesellschaft gelungen, in der abweichende Verhaltensweisen als nahezu krankhaft geächtet werden. Ich-Erzählerin Keiko, die schon als kleines Mädchen nicht der japanischen Vorstellung von mitfühlender Weiblichkeit entspricht, kann im Convenience Store ihre Lebenswelt auf ein für sie erträgliches, „abgepacktes“ Maß reduzieren. Kleidung, Umgangsformen, Beschäftigung, Essen – alles vorgegeben. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind durch Servicegepflogenheiten geregelt, die Zeitrechnung orientiert sich an Lieferterminen u.ä.. Belastende Unwägbarkeiten wie Sexualität kommen nicht zum Tragen. Der Konbini ist eine Art Kloster für Atheisten. (Und Auszeiten im Kloster sind ja auch hierzulande mehr als beliebt.)

M. E. entsteht bei der Lektüre eine starke Identifikation mit Ich-Erzählerin Keiko, deren Leidenschafts- und Klaglosigkeit in krassem Gegensatz zu ihrer unmöglichen Lage stehen. Angesichts der Taktlosigkeit ihrer Umgebung vergisst man, wie aberwitzig sie selbst sich verhält. Ihr Unwohlsein wird begreiflich, das Erstickende an ihrer Lebenssituation spürbar. Die Leserin wünscht sich, Keiko würde in Ruhe gelassen, wünscht, sie würde den grotesken dürren Mann rausschmeißen, der sich in ihrer Badewanne eingenistet hat und zu dem ihre Umgebung sie so hysterisch beglückwünscht. Das absurde Gebaren der Figuren verleiht der Geschichte eine trockene Komik, die den Ernst der Lage ständig durchkreuzt und eine Spezialität der Autorin Murata ist. Statt Verzweiflung vermittelt auch sie einen tröstlichen Gedanken: Nicht nur ich, auch alle anderen sind verrückt.


In der Japanologie wenden wir uns derzeit auch wieder der Relektüre von Klassikern der Moderne und der Gegenwart zu. Sie haben vor kurzem Mishima Yukios Kinkakuji als „Der Goldene Pavillon“ in einer neuen deutschen Fassung übersetzt. Wie ist dieses Projekt entstanden? 

Gräfe: Der Kein & Aber Verlag in Zürich plante seit längerem – auch im Hinblick auf Mishimas bevorstehenden 50. Todestag am 25.11. 2020 Neuübersetzungen und eine Erstübersetzung von 命売ります (Inochi urimasu, dt. Leben zu verkaufen), die im Mai 2020 in der Übertragung von Nora Bierich erscheinen wird. Eine Neuübersetzung von 金閣寺 (Kinkakuji) war ein langgehegter Traum von mir, denn ich halte diesen Roman für einen der gelungensten der Weltliteratur. Und ich hatte das Glück, mir den „Goldenen Pavillon“ sozusagen reservieren zu können, als das Projekt anfänglich ins Gespräch kam. 


Wo lagen die Herausforderungen bei der Mishima-Übersetzung?

Gräfe: Ich hatte tatsächlich nicht damit gerechnet, dass die Übersetzung so schwierig und anstrengend werden würde. Es lag mir ja immerhin die Erstübersetzung „Der Tempelbrand“ von Walter Donat aus dem Jahre 1961 vor, dann gibt es eine amerikanische, eine französische und eine italienische Übersetzung – die ich alle zur Verfügung hatte –, also konnte eigentlich nicht viel passieren. Dennoch war die Übertragung eine stilistische Gratwanderung, zum Beispiel die philosophischen Exkurse in einer Weise zu übersetzen, dass man sie einem 19-jährigen Novizen zutraut, war nicht so einfach. Es sollte ja auch kein "Mishima-Haruki"-Text entstehen. Schwierig waren auch Mishimas poetische und originelle Schilderungen der Schönheit und Widerständigkeit des Kinkaku. Mishima war ein hochgebildeter Mann, so gab es viele zen-buddhistische, kunsthistorische, literarische und historische Inhalte zu recherchieren, das hat mitunter lange gedauert. Sogar die neue Übersetzung des Kojiki von Klaus Antoni, die ich an dieser Stelle wärmstens empfehle, kam zum Einsatz. Ich ziehe an dieser Stelle den Hut vor den frühen Übersetzern, die noch kein Internet zur Verfügung hatten. 


Gibt es Pläne, noch andere Klassiker neu zu übersetzen?

Gräfe: Ende November fand in Paris eine zweieinhalbtägige Konferenz über Mishima statt, bei der verschiedene Übersetzungsprojekte vorgestellt wurden, vor allem Übersetzungen von 命売りますins Englische (Stephen Dodd), Italienische (Giorgio Amitrano) und Französische (Dominique Palmé). 

Andere Neuübersetzungen von japanischen Klassikern sind mir nicht bekannt, es sei denn, man würde die neue Übertragung von Murakamis ねじまき鳥クロニクル  (Nejimakidori kuronikuru) dazu zählen, das 1998 (nach einer gekürzten amerikanischen Übersetzung) als Mister Aufziehvogel im Dumont Buchverlag erschienen war.


An welchen Texten arbeiten Sie momentan?

Gräfe: Augenblicklich arbeite ich an der erwähnten Neuübersetzung von ねじまき鳥クロニク, für mich natürlich ein höchst interessantes Projekt. Parallel dazu darf ich ein sogenanntes „Toledo- Journal“ (https://lcb.de/programm/toledo-journale/ ) führen, in dem bestimmte Aspekte der Übersetzungsarbeit dokumentiert und reflektiert werden sollen.

Außerdem in Arbeit ist ein Band mit Erzählungen der Autorin Motoya Yukiko mit dem deutschen Arbeitstitel „Die traurige Bodybuilderin“. 


Gerne möchten wir Sie wieder im Wintersemester dieses Jahres als Gastdozentin an die Goethe-Universität holen für ein Intensivseminar zur Übersetzung aus dem Japanischen. Könnten Sie zusagen, obwohl Sie sehr ausgelastet sind? 

Gräfe: Ja, sehr gern, den Termin besprechen wir noch. 

 

Ursula Gräfe studierte an der Goethe Universität in Frankfurt die Fächer Japanologie, Anglistik und Amerikanistik. Seit 1988 ist sie hauptberuflich als Übersetzerin literarischer Texte tätig. Nachdem sie 2004, zusammen mit Kimiko Nakayama Ziegler, den Übersetzerpreis der Japan Foundation erhalten hatte, wurde sie am 17. Oktober 2019 mit dem renommierten Noma Award for Translation of Japanese Literature / Noma Preis für die Übersetzung japanischer Literatur ausgezeichnet, den der Direktor des Medienunternehmens Kodansha, Noma Yoshinobu, im Rahmen der Buchmesse an sie und an die Übersetzerin Nora Bierich, überreichte. Gräfe ist Mitglied im Verband deutschsprachiger Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke /VdÜ. Sie lebt in Frankfurt am Main.

Comentários


bottom of page