Die Anthologie „Erste Person Singular“ und das Anima-Konzept
von Lisette Gebhardt
Ansätze zum Ich-Roman?
Die Sammlung von acht Kurzgeschichten erschien zunächst unter dem Titel 一人称単数 Ichininshô tansû (Erste Person Singular) im Juli 2020 bei Bungei Shunjû.
In den einzelnen Episoden spricht immer ein „Ich“. Es richtet seinen Blick meist auf ein Erlebnis in der Vergangenheit, das sich wohl ins Gedächtnis der berichtenden Persona eingegraben hat. Die sprechenden Personen sind typische Figuren aus dem Murakami-Universum – etwa ein Mann, der sich an eine Frau erinnert, mit der ihn etwas Tiefes verband, die aber spurlos verschwindet. An einigen Stellen lässt der Autor auch selbstreferentielle Details in die Schilderungen einfließen. Dass sich die weltliterarisch anerkannte Größe mit ihren Kurzgeschichten dem in Japan lange dominanten Genre der reinen Literatur (junbungaku), dem „Ich-Roman“ (shishôsetsu), andienen möchte und damit dem Publikum autobiographische Einblicke gewähren möchte, ist allerdings unwahrscheinlich. Angaben, die sich auf den textinternen Schriftsteller und seinen Werdegang beziehen, stellen wie die anderen eingestreuten Erinnerungen der Senior-Persona an sein „echtes“ Selbst in verschiedenen Altersstadien ein literarisches Spiel dar – oft mit Wendungen zum Phantastischen.[1] Am Ende ist die Denkfigur des Rätselhaften und Unbestimmten dominant: Die Idee von einem konsistenten „Ich“ bleibt dabei zweifelhaft. Ein stabiles „Ich“ basiert nur auf mehr oder weniger kunstvollen Zusammenfügungen zugunsten einer schlüssigen Erzählung, die der Erschaffung von Figuren in der Literatur gleicht.
Das „Ich“ zeigt sich in Murakamis Schreibwerkstatt als arbiträre, fluide Formation – abhängig von vielen Faktoren ebenfalls nicht-statischer Außen- und Innenwelten, abhängig vor allem von der temporären Perspektive und den verschiedenen Beobachtungspositionen in Zeit und Raum: Ein „Ich“, d.h. grammatikalisch definiert eine Erste Person Singular, ist (eben wie die literarische Erzählung) nur ein Konstrukt, am Ende eine bloße Illusion, der man anhängt, um mittels dieser Setzung gewisse Orientierungspunkte innerhalb des menschlichen Wahrnehmungshorizonts vorzufinden. Murakami bringt in den Episoden, die einmal mehr davon zeugen, dass sich seine schriftstellerische Kunst am besten in der Kurzgeschichte zeigt, beinahe Argwohn vor dem „Ich“ zum Ausdruck, scheint doch die konstruierte Identität häufig mit Verunsicherung, Scham und Schuld verknüpft. Die Aufmerksamkeit des Autors gilt den Momenten, in denen sich eine vermeintlich verbürgte Wirklichkeit als Trugschluss erweist und sich – durch die Erfahrung von etwas Seltsamem oder Schrecklichem – der Schleier des Verborgenen ein wenig hebt, meist allerdings nur um ein größeres Enigma zu präsentieren, das als Aufgabe dem fiktionalen „Ich“ ebenso gestellt wird, wie es die Phantasie des Lesers bemüht. Stets bleibt die Fokus-Figur „Ich“ in einem Zustand des Fragens: Die Rätselhaftigkeit der Welt, die nicht durchschaubar scheint, prägt das „Ich“, da es sich selbst fremd ist.
Konfrontation mit der Anima
Murakamis älterer Protagonist, der die Dinge zuweilen in ihrer Arbitrarität und Fluidität wahrzunehmen vermag, überlegt im vorliegenden Geschichtenensemble mehrere Male, ob er nicht auf dem Lebensweg falsch abgebogen sei. Während eines Barbesuchs in der letzten Episode scheint es ihm plötzlich, dass „der Mann dort im Spiegel gar nicht ich war, sondern ein völlig Fremder“. Wer war also jener „Mann im Spiegel“? Der Grund des essentiellen Zweifels liegt zunächst in seiner Gewohnheit, in längeren Abständen einmal seine gute Garderobe, die er sich „gezwungenermaßen“ für offizielle Anlässe zugelegt hat, auszuführen. Er genießt dann „das geheime Ritual“, die edlen Stücke aus dem Schrank anzuziehen und „in Anzug und Krawatte einen kleinen Bummel durch die Stadt zu machen“. In besagter Bar gerät der an einem Wodka Gimlet Nippende und in einem Buch Lesende unvermittelt in Streit mit einer ebenfalls stilvoll gekleideten Frau „um die fünfzig“. Sie wirft ihm Geschmacklosigkeit im Hinblick auf seine sorgsam ausgewählte Kleidung vor, setzt ihre Attacke auf ihn dann fort, indem sie mitteilt, sie sei die „Freundin einer guten Freundin von Ihnen“. Der Freundin hätte er vor „drei Jahren am Ufer“ etwas „Schreckliches, Widerwärtiges“ angetan.
Der Mann kann sich nicht erinnern, empfindet jedoch Angst bei der Vorstellung, „dass vielleicht ein Ich, das nicht ich war, vor drei Jahren an irgendeinem ‚Ufer‘“, einer Frau schlimmes Leid zugefügt haben könnte. Murakami ergänzt: „Alles, was die Frau gesagt hatte, war konkret, und dennoch empfand ich es als äußerst symbolisch“. Der Hinweis ist fast schon ein Zuviel der Information: Das Gegenüber spiegelt den inneren Konflikt des Protagonisten und legt offen, was ihm zu schaffen macht. Möglicherweise existiert die geheimnisvolle Gestalt auch nicht in der Realität. Mit dieser Beobachtung hätte man ein Schlüsselkonzept des Autors entdeckt, auf das bereits der bekannte Murakami-Kommentator Jay Rubin hindeutet, der feststellt, die Figuren, die den Standard-Helden Boku umgeben, seien Manifestationen von Bokus Selbst (Rubin 2004: 51). In einem weiteren gedanklichen Schritt könnte man dann vermuten, Murakamis Frauenfiguren repräsentierten den weiblichen Seelenanteil des männlichen Protagonisten. Damit stünden sie dem Prinzip der „Anima“ nahe, einem Konzept zur Interpretation des menschlichen Seelengefüges, das vom Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung (1875-1961) entwickelt wurde.
Dass der Held aus „Erste Person Singular“ nach der Begegnung mit der Fremden gänzlich aus dem seelischen Gleichgewicht und in ein mit chthonischen Bildern illustriertes Bewusstseinschaos gerät, verrät der seltsame Schluss der Geschichte, in dem die Erzählung vom Bericht des selbstgefälligen Flaneurs (bezeichnend die Allegorie der Äußerlichkeit in Form der teuren Kleider) zur urban phantasy im Gruselmodus wechselt. Als der Angegriffene sich aus der Bar entfernt, ist der Frühlingsmond verschwunden und „um die Stämme der Bäume wanden sich dicke, schleimige Schlangen wie eine lebendige Dekoration.“ Weiße Asche bedeckt den Gehweg, „gesichtslose Passanten stießen schwefelgelben Atem aus“. Die Verleugnung seiner Anima hat die Welt in ein höllenartiges Szenario verwandelt.
Murakami als Jungianer und die Agenda Kawai
Als „Jungianer“ blieb der oft als Meister postmoderner Narration adressierte Weltliterat bis heute weitgehend unbekannt. Die These, Murakamis Jung-Rezeption sei ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Frauenfiguren und des gesamten Werks, scheint aber durchaus vertretbar, auch wenn sich Forschung und Feuilleton nur wenig mit dem Thema befasst haben.[2] Der Autor selbst hielt einschlägige Äußerungen bislang eher zurück, wohl weil der nicht unumstrittene Psychoanalytiker mit seinen kryptowissenschaftlichen Exkursen einen zumindest potentiell angreifbaren Bezugspunkt für einen Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis dargestellt hätte.
Über die japanische Jung-Rezeption wurde insgesamt noch kaum geforscht. Zumindest Hinweise dazu gibt es im Rahmen von Studien zur seishin sekai, dem japanischen New Age. Innerhalb einer Zeitgeschichte einschlägiger Ideen käme die Beschäftigung mit Jung in den 1970er und 1980er Jahren zum Tragen.[3] Die Ära war, wie es Arbeiten belegen, auch in Japan von der Hinwendung zu Esoterik und New Science geprägt. Sogenannte spirituelle Intellektuelle, zu denen der Religionswissenschaftler Shimazono Susumu (Emeritus der Universität Tôkyô) den Nationalpsychologen Japans, Kawai Hayao 河合隼雄 (1928-2007) ebenso zählte wie den Philosophen Yuasa Yasuo 湯浅泰雄 (1925-2005), prägten – zumindest auf der medialen Oberfläche – den Kulturdiskurs der beiden Dekaden bis zum AUM-Zwischenfall von 1995, der das „Spirituelle“ in Misskredit setzte. Die Thesen Jungs jedenfalls waren bei den damaligen Repräsentanten der japanischen publizierenden Szene sehr populär.[4] Von Kawai Hayao wurden sie bis in die 2000er weiter vertreten. Aktuell setzt dessen Sohn, Kawai Toshio 河合俊雄 (*1957), am Kokoro no Mirai Kenkyû Sentâ der Universität Kyôto die psychoanalytische Arbeit auf der Basis Jungs fort.
Seit wann sich Murakami für Jung interessierte, ist nicht exakt nachzuvollziehen. Belegt sind Zusammentreffen des Schriftstellers mit dem Jung-Spezialisten Kawai Hayao Mitte der 1990er Jahre. Ein längerer Austausch wurde z.B. im Band Murakami Haruki, Kawai Hayao ni ai ni iku (1996; Murakami Haruki trifft Kawai Hayao) dokumentiert, ein kürzerer in Kawais gesammelten Dialogen in Kokoro no koe wo kiku (1995; Die Stimme des Herzens hören). Thema der Gespräche war der durch den Verlust einer „großen Erzählung“ bedingte Orientierungsmangel im gegenwärtigen Japan und die Ambition, diesen Umstand zu überwinden. Auswege aus der Krise und „Heilung“ (iyashi) böten sowohl die Psychologie wie auch die Literatur. Man kann nur mutmaßen, inwieweit Murakami von Kawai mit der künstlerischen Gestaltung einer neuen Narration für die landeseigenen Seelen beauftragt worden ist, oder ohnehin schon für sich erwogen hatte, seine von etlichen Literaturkritikern vielleicht allzu schnell als „postmodern“ deklarierte Prosa künftig mit einem Sinnkonzept zu unterlegen, das noch aus der alten Moderne stammt. Anscheinend sind die Bezüge des Autors zu Jung so klar, dass der von der Jungʼschen Lehre geprägte Psychoanalytiker Kawai Toshio, besagter Direktor des auf Englisch Kokoro Research Center genannten Instituts, ihm die Monographie Murakami Haruki no ‚monogatari‘ yume-tekisuto to shite yomitoku (2011; Murakami Harukis ‚Narrationen‘ gelesen als Traumtexte) widmete.
Zurecht könnte man an dieser Stelle einwenden, dieser Forscher lege eventuell nur interessengeleitete Befunde vor und generell ließen sich viele literarische Texte als „Traumtexte“ interpretieren. Murakamis Referenzen auf Jung wären jedoch nicht nur im Hinblick auf die notorischen Traumszenarien nachzuvollziehen, sondern könnten auch in der weiteren literarischen Motivik sowie anhand eines direkten Verweises an prominenter Stelle belegt werden: Im dritten Buch des Epos 1Q84 erscheint ein Satz des Seelenspezialisten aus Küsnacht, wenn Tamaru, der Leibwächter der alten Dame, dem für die sinistre Sekte tätigen Detektiv Ushikawa, Details aus dem Leben des Schweizer Psychoanalytikers vorträgt. Er weist dabei auf Jungs Vorliebe für einen Spruch hin, wiedergegeben bei Murakami als „Kalt oder nicht, Gott ist hier“ (im Original lauten die Worte anders). Diese Allusion wäre vielleicht als spielerische verfälschte Bezugnahme abzutun, doch kann man kaum leugnen, dass 1Q84 wie schon After Dark (2005)zuvor und später Shikisai wo motanai Tazaki Tsukuru to, kare no junrei no toshi (2013; Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki) sich im Hinblick auf die psychische Problematik der Helden konzeptuell auf Jung‘sche Interpretamente, in erster Linie auf das Anima-Schema stützen. Dass das Denken Jungs zu einem erstaunlichen Maß Murakamis „message“ prägt, wäre wohl keine ganz falsche Annahme, bezieht man die im Werk des japanischen Autors artikulierten Zweifel an der Möglichkeit bewusster Wahrnehmung auf Jungs Vorstellung des Ich-Komplexes. Diese besagt, jeder könne nur Inhalte registrieren, die mit dem begrenzten eigenen Horizont in Verbindung stünden.[5]
Boku und seine weiblichen Spiegel
Der psychoanalytische Blick auf das Ich war, wie man mutmaßen kann, auch Teil der Sozialisation der jüngeren Generationen in den 1960er, 1970er Jahren, in denen die Konzepte Freunds und Jungs vielfach rezipiert wurden. Familiäre Beziehungen sowie das Verhältnis von Mann und Frau erfuhren eine nachhaltige Psychologisierung. Murakamis Interesse an Fragen der Psychologie stünde demnach im Einklang mit damaligen Zeitströmungen. Eine neue Sensibilität für seelische Belange, die ihn von anderen Autoren abhebt, wird dem Autor vor allem seit dem Erscheinen von Naokos Lächeln attestiert.[6] Während für manche Leser der Roman aus dem Jahr 1987 mit seinem ungewöhnlich stark auf die Gefühle der Partnerin bezogenen, reflektierten Helden, scheinbar eine Veränderung der Perspektive des männlichen Protagonisten unter besonderer Berücksichtigung der Psyche der Frau belegt, eröffnet sich eine etwas andere Ebene der Interpretation, wenn man die beschriebenen Inhalte nicht als Kritik an der herkömmlichen Figurengestaltung in der japanischen Gegenwartsliteratur – mit ihren meist die eigene männliche Rolle kaum hinterfragenden Protagonisten (männlicher Autoren) – sieht, sondern als Hinweise auf das Seelendrama des Boku versteht.
Bokus Sensibilität würde sich dieser Auslegung nach im Wesentlichen auf seine Seelenspiegel, d.h. auf die eigene Befindlichkeit beziehen und nicht auf die Traumata einer (wenn auch nur imaginierten) Partnerin. Dass ein weibliches Gegenüber auf feminine Seelenanteile in Murakamis Fokusfigur verweist, bestätigt auch die Lektüre der Episoden „Crème de la Crème“ und „Carnaval“ aus Erste Person Singular. In „Crème de la Crème“ berichtet der Erzählende einem Freund von einem Erlebnis seines jüngeren Ich im Alter von achtzehn. Er sei von einem Mädchen zu ihrem Klavierkonzert eingeladen worden, habe an der genannten Adresse aber verschlossene Türen vorgefunden und musste unverrichteter Dinge den Heimweg antreten. Die Schilderung ist offenbar als Allegorie angelegt und enthält zahlreiche symbolische Hinweise. So wäre das „Mädchen“ als Facette seines Ichs zu verstehen, die mit einer Karriere in der Musik geliebäugelt hatte. Diese Ambition hat der Protagonist aber immer unterdrückt, in der Selbstzuschreibung nicht genug begabt zu sein. Seine besten Fähigkeiten lagen wohl nicht im musikalischen Bereich. Auf seinem Rückweg ruht sich der junge Mann aufgewühlt, bedrängt vermutlich von Entscheidungsfragen im Zusammenhang mit seiner Zukunft, auf einer Bank in einem „kleinen Park“ am Hügel aus. Hier trifft er auf die ältere, wissende Variante seines Selbst, die ihn mit dem Gedanken des Wesentlichen, der „Essenz des Lebens“ vertraut macht. Der reife Erzähler gibt vor, immer noch nicht ganz die Lehre dieses Erlebnisses verstandenen zu haben und mutmaßt, man erfahre eine Bewusstseinssphäre des Stimmigen, „wenn wir jemand wirklich lieben, tiefes Mitgefühl empfinden, zu einer idealistischen Weltauffassung, einer Überzeugung oder einem Glauben (oder etwas Ähnlichem) gelangen“.
Affe und Anima
Im „Bekenntnis des Affen von Shinagawa“ thematisiert Murakami, wie man schließen kann, indirekt den Trieb des Mannes. Ein gewaltsam-aggressiver männlicher Eros wurde in der Moderne mehr oder weniger domestiziert, unter anderem durch die Naturwissenschaften und die moderne Technik auf einen niedrigen Platz verwiesen. Ihn öffentlich zu zeigen, ziemte sich lange Zeit nicht. Diese Überlegungen manifestieren sich in Gestalt des seltsamen, scheu- unterwürfigen Affen, auf den der Protagonist in einer heruntergekommenen traditionellen Herberge mit Thermalquelle in der Präfektur Gunma trifft. Er erscheint, als der Erzähler gerade im heißen Onsen sitzt, und bietet ihm an, den Rücken einzuseifen, d.h. als Badeassistenz alten Stils zu dienen. Auf die Bitte des Gastes hin, ihm von seinem Leben zu berichten, zögert der Affe nicht lange und willigt ein, abends bei einer Flasche kühlen Sapporo-Biers einige biographische Details preiszugeben: Er habe früher in Shinagawa bei einem Ehepaar gewohnt. Der Mann war Physikprofessor der Gakugei-Universität, ein Akademiker mit großem Faible für Anton Bruckner und Richard Strauss sowie mit ausgeprägten ehelichen Aktivitäten während der Nacht. Seit drei Jahren arbeite er nun im Kurhotel. Sein eigentliches Geheimnis sei jedoch, dass er, wenn er sich in eine (menschliche) Frau verliebe, als Ersatz für die Verwirklichung erotischer Interaktion ihren Namen stehle – der Diebstahl funktioniert durch die Aneignung eines persönlichen Objekts der Betroffenen, vorzugsweise eines Dokuments. Nötig sei dabei auch viel Willenskraft. Die Frau erleide dadurch eine Art von Gedächtnisverlust.
Ein als verfressenes Subjekt bezeichneter, in der unterirdischen Kanalisation (Parallele zu Stephen Kings Es!) von Shinagawa beheimateter Affe mit ähnlichem forensischem Hintergrund, den die psychologische Beraterin Sasaki Tetsuko entlarvt, erschien im übrigen bereits in der Kurzgeschichte Shinagawazaru / Der Affe von Shinagawa, 2005. Der begabte Mittler zur „dunklen Seite“, Shinagawazaru, agiert als Jungianer, wenn er eine Protagonistin über ihren Schatten (in dem Fall ihre Vergangenheit als ungeliebtes Kind) aufklärt: „(…) Sie haben vor dieser traurigen Tatsache absichtlich die Augen verschlossen und sie in eine dunkle Ecke Ihres Herzens verdrängt, den Deckel zugemacht und versucht zu leben, ohne daran zu denken. Diese Abwehr ist Teil Ihrer Persönlichkeit geworden“ (Murakami 2006: 408).
Männliches Begehren führt, so die Logik von „Bekenntnis des Affen von Shinagawa“ in seiner neueren Manifestation, auch in ihrer sublimierten Form nicht selten zu einer Schädigung des weiblichen Zielobjekts, in „gewissen Fällen sogar zu einer Identitätskrise“. Obwohl der Affe Reue empfindet und sich zu seiner Schuld bekennt, kann er nicht anders, als dem biologischen Zwang nachzugeben und sich „einen Teil der Frau einzuverleiben“. Nicht zuletzt beabsichtige er, durch die synthetisierte Wärme, die er aus dem Namen gewinnt, die Kraft zu finden, den Rest seines Lebens durchzustehen. Der Ich-Erzähler, offensichtlich ein erfolgreicher Autor, der sich im Umfeld von Verlagslektoren und Zeitschriftenredakteuren bewegt, fasst den Entschluss, das seltsame Erlebnis für sich zu behalten. Als er Jahre später nach der kurzen Reise eine geschäftliche Besprechung mit der attraktiven jungen Redakteurin eines Reisemagazins hat, geschieht es, dass sie sich plötzlich nicht mehr an ihren Namen erinnert. Vom Autor befragt, gibt sie an, eines Tages Ende März ihrer Tasche beraubt worden zu sein. Nur der Führerschein habe gefehlt, wie sie auf der Polizeistation feststellt, die sie über den Fund der Tasche verständigt. Voll schlechten Gewissens kann sich der Protagonist jedoch nicht durchringen, ihr vom Affen zu erzählen.
Als Exegese bietet es sich an, einen Konflikt von Anima und Affe zu diagnostizieren. Zum einen weist die konflikthafte Konstellation auf die verborgenen (dann aber doch einigermaßen eingestandenen) Absichten des Protagonisten hin, der offenbar gerne in der „Realität“ mit besagter junger Redakteurin ein erotisches Abenteuer erlebt hätte. Seine unterdrückte Triebhaftigkeit, die er mittels eines moralischen Imperativs zu bannen sucht, begegnet dem Autor an einem klassischen Ort schwüler Versuchung in Gestalt des älteren Affen – während einer Badekur. Zum anderen gefährdet ein Affe als symbolischer Bestandteil seiner männlichen Identität, nämlich als animalischer Anteil des Animus, das innere Gleichgewicht des älteren Schriftstellers. Dieser betrachtet das „Tier“ mit Misstrauen. Er möchte nicht dessen Gelüste nähren, sondern der jungen, unschuldigen Frau (in sich) mehr Raum geben.
Die Persona des Schriftstellers
Die Erzählungen in Erste Person Singular bieten dem Leser Gelegenheit, einen Blick in das Seelenhaus des in der Fiktion portraitierten Schriftstellers zu werfen. Hier begegnet er einer Reihe von Figuren, die die Person bilden, die – in der Realität – nach außen als die erste und einzige, im Jung‘schen Sinn als „Maske“ (Persona), wahrgenommen wird. Viele Arbeiten Murakamis greifen auf die Muster der Individuation und das Anima-Schema zurück. Was zunächst vielleicht ungewöhnlich erscheint, kann aus komparatistischer Perspektive einem literarischen Psychologismus der japanischen Gegenwartsliteratur zugeordnet werden. Eine Traditionslinie führt von Kawabata Yasunari über Mishima Yukio zu Endô Shûsaku; letzterer war ebenfalls Jung-Adept. Murakamis Faible für das Jung‘sche Modell bleibt bemerkenswert.[7] Eine detailliertere Analyse der Bezüge Murakamis zum Schweizer Therapeuten würde aber vielleicht den Glanz des für das globale Publikum so attraktiven Meisters mystisch-rätselhafter Prosa partiell etwas abschwächen – nicht im Hinblick auf seine erzählerischen Fähigkeiten und den guten Flow der Texte, sondern in Bezug auf ihre gern als wohltuend verstandene Botschaft. Manche Interpreten attestieren dem Autor „heilende“ Kräfte oder ein psychologisch positiv wirkendes Schreiben (siehe Suter).[8]
Im Laufe seiner Karriere hat Murakami Sinnmuster seiner Texte, die sich als psychologische Unterweisungen verstehen ließen, in der Tat immer wieder aufgegriffen und weitergeführt. Ob dem Autor andere Ideen nicht in den Sinn kamen, ob er pragmatisch oder strategisch mit Blick auf den Erfolg vorging, ist letztlich schwer zu beantworten. Für die Auffassung, dass Murakami sich im Laufe seiner Karriere als Verfasser von Weltliteratur immer stärker den Publikumserwartungen und einer in der medialen Öffentlichkeit geformten Persona überantwortete, mag das auf Emotionen abhebende und nahezu PR-technisch perfekt anmutende Vorwort zur Kurzgeschichtensammlung Blinde Weide, schlafende Frau als Beleg dienen. Hier heißt es über das Schreiben von Kurzgeschichten: „Meine Kurzgeschichten sind wie weiche Schatten, die ich in die Welt gesetzt, wie schwache Fußspuren, die ich hinterlassen habe. Ich weiß noch genau, wo ich jede einzelne niedergeschrieben und wie ich mich dabei gefühlt habe. Die Kurzgeschichten sind Wegweiser zu meinem Herzen, und als Autor macht es mich glücklich, meinen Lesern diese intimen Empfindungen übermitteln zu können“ (Murakami 2006: 11).
Anmerkungen
[1] Diese Technik hat Murakami bereits früh eingesetzt, z.B. in den Kurzgeschichten des Bandes Kaiten mokuba no deddo hiito (1985; Dead Heat on a Merry-Go-Round).
[2] Eine Ausnahme stellt Jonathan Dil dar. Der amerikanische Literaturspezialist hält in seiner Dissertation fest: „While there is clearly evidence to suggest so, it is interesting to realise that Murakami has always been careful to downplay the influence of Jung in his work“ (Dil 2007: 37). Der Verfasser entwickelt das Jung-Thema später noch detailreicher in einem Beitrag über Tazaki Tsukuru (Dil 2018), verhält sich jedoch generell sehr affirmativ gegenüber einem möglicherweise therapeutisch ambitionierten Murakami, dessen Kompositionen aufgrund der ihnen eigenen absichtsvollen Unverbindlichkeit und der gewinnorientierten Selbstfetischisierung des Contents Kritiker wie Miyoshi Masao und Saitô Minako nicht ganz zu Unrecht mit Vorbehalten begegnen – was Dil als „zynisch“ ablehnt. In der Literaturkritik greift Tad Crawford das Sujet auf. Er zitiert Aussagen des Autors und folgert: „When asked by an interviewer why women in his novels seem to embody and represent the fears and fantasies of his narrators, Murakami answered, ‚In my books and stories, women are mediums, in a sense; the function of the medium is to make something happen through herself. It’s a kind of system to be experienced. The protagonist is always led somewhere by the medium and the visions that he sees are shown to him by her.‘ This remarkable view of the woman’s role closely echoes psychologist C. G. Jung’s theory of the anima. Anima means soul or life (especially inner life). Through such an image a man may seek for aspects of his life that are unconscious, undiscovered by him. The image of the woman may be seen in a vision, a dream, or even be a woman whom he meets“ (Crawford 2013). In einem deutschen Zeitungsartikel (Fuhr 2019) wird ebenfalls auf Jung hingewiesen.
[3] Murakami wird eine Affinität zu Stephen King nachgesagt. Der Autor von Horrorromanen und Kurzgeschichten thematisiert oft die Begegnung mit der dunklen Seite des Seins, die auf psychische Abgründe des Individuums oder eines Kollektivs hindeutet. Zu Murakami und King siehe etwa Gebhardt (2001: 194).
[4] Dieses Umfeld behandelt die Studie Japans Neue Spiritualität, die am Rande auch auf die japanische Jung-Rezeption rekurriert Gebhardt (2001: 184).
[5] Ein Komplex meint in psychoanalytischer Hinsicht eine Formation von Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen, die sich um einen bestimmten wichtigen Zusammenhang gebildet haben. Komplexe werden in das Unbewusste verdrängt und können sich im Bewusstsein als Affekt manifestieren. Der nach außen gerichtete Aspekt des Ich-Bewusstseins stellt die äußere Persönlichkeit dar, die Persona; sie zeigt ein normatives Verhalten und ermöglicht die Anpassung an die Außenwelt. Die verborgene, im Dunkeln liegende Seite der Persönlichkeit enthält die mit den bewussten Identifikationen des Ich unvereinbaren Aspekte und wird als „Schatten“ bezeichnet. Findet keine bewusste Auseinandersetzung mit ihm statt, kann man ihn nur außerhalb des Ich wahrnehmen, was bedingt, dass er häufig auf andere Personen projiziert wird. Die Integration des Schattens ist Bedingung für die Ganzwerdung der Persönlichkeit: Sie stellt in erster Linie ein moralisches Problem dar. Eine Aufgabe für die späteren Lebensjahre ist vor allem die Integration der eigenen Anteile des jeweils anderen Geschlechts (Anima, Animus).
[6 ]Kritik an Murakamis Portraits von Frauen übte man schon früh in einer Gesprächsrunde (Ueno Chizuko et al.) von Wissenschaftlerinnen und Autorinnen, die unter dem Titel Danryû bungaku ron (1992) veröffentlicht wurde. Eine aktuelle Diskussion des Themas eröffnet der Dialog Murakami Harukis mit Mieko Kawakami (Kawakami / Murakami 2017).
[7] Die psychoanalytische Komponente in Murakamis Werk kommt auch zum Tragen, wenn sein Verständnis des schreibenden Künstlers (letztlich das eigene Selbstverständnis als Autor) diskutiert werden soll. Die amerikanische Literaturspezialistin Rebecca Suter denkt, Murakami verstehe seine Schriftstellerfiguren als „schamanenhafte“ Existenzen, die es ermöglichten, dass die „Menschen mit ihrem inneren Selbst und mit anderen eine Verbindung herstellen könnten“: „(…) Murakami’s portrayal of the artist as a shaman-like figure functions like a metaphor for the role of the literary author as a catalyst that enables people to connect with their inner self and with each other“ (Suter 2020).
[8] Murakamis „Moratoriumsliteratur“, die einen neuen Raum der Innerlichkeit entstehen ließ, wurde nicht selten im Kontext des iyashi-Trends gesehen (z.B. Nakamata Akio 2002: 32; zit. nach Gebhardt 2008; siehe dort S. 19, auch 1-4).
Literaturverzeichnis
Quellentexte:
Murakami Haruki (2020): Ichininshô tansû. Tôkyô: Bungei Shunjû.
Murakami Haruki (2021): Erste Person Singular. Erzählungen. Köln: Dumont Verlag.
Murakami Haruki (2006): Blinde Weide, schlafende Frau. Erzählungen. Köln: Dumont.
Murakami Haruki / Kawakami Mieko (2017): "A Feminist Critique of Murakami Novels. With Murakami Himself. Mieko Kawakami Interviews the Author of Killing Commendatore", https://lithub.com/a-feminist-critique-of-murakami-novels-with-murakami-himself/.
Sekundärliteratur / Links:
Crawford, Tad (2013): „Haruki Murakami’s Healing Anima“. In: Literary Kicks, https://litkicks.com/MurakamiAnima/.
Dil, Jonathan (2007): Murakami Haruki and the search for self-therapy (2008). https://ir.canterbury.ac.nz/handle/10092/1004.
Dil, Jonathan (2018): „The Alchemy of Recovery in Colorless Tsukuru Tazaki and His Years of Pilgrimage“. https://www.academia.edu/37905521/the_Alchemy_of_Recovery _in_Colorless _Tsukuru_Tazaki_and_His_Years_of_Pilgrimage.
Fuhr, Stephan (2019): „Der japanische Literatur-Exportweltmeister Haruki Murakami wird 70“. https://www.sonntagsblatt.de/artikel/menschen/der-japanische-literatur-exportweltmeister-haruki-murakami-wird-70.
Gebhardt, Lisette (2001): Japans Neue Spiritualität. Wiesbaden: Harrassowitz.
Gebhardt, Lisette (2009): Lifestyle und Psychodesign in der japanischen Moratoriumsliteratur. Kawakami Hiromi und Ogawa Yôko. Heft 1. Literaturschwerpunkt – Forschungsergebnisse. F.a.M: Japanologie der Goethe-Universität.
Kawai Hayao / Murakami Haruki (2016): Haruki Murakami goes to meet Hayao Kawai. Einsiedeln: Daimon.
Kawai Toshio (2019): „From Internal to Open Psyche: Overcoming Modern Consciousness?“. In: Jung’s Red Book for Our Time: Searching for Soul Under Postmodern Conditions. Hg. v. Murray Stein und Thomas Arzt. Asheville: Chiron Publications, S. 163-178; Verweis: http://kokoro.kyoto-u.ac.jp/jungs-red-book_en/.
Kawai Toshio (2011): Murakami Haruki no ‘monogatari’ yume-tekisuto to shite yomitoku. Tôkyô: Shinchôsha.
Rubin, Jay (2004): Murakami und die Melodie des Lebens. Die Geschichte eines Autors. Köln: Dumont Verlag.
Suter, Rebecca (2020): „The artist as a medium and the artwork as metaphor in Murakami Haruki’s fiction“. In: Japan Focus, Volume 32, Nr. 3: 40 Years with Murakami Haruki, S. 361-378. https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/09555803.2019.1691630?journalCode=rjfo20.
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