Auf den Spuren von Kawakami Miekos literarischer Traumatherapie
Rezension Lisette Gebhardt (Februar 2021)
Zur Textgenese von Sommer-Erzählungen
Für Chichi to ran (Brüste und Eier) erhielt die 1976 in Ôsaka geborene Autorin Kawakami Mieko den renommierten Akutagawa-Preis. Der 2007 vollendete Text wurde 2008 ausgezeichnet. Erst später entstand unter dem Titel Sommer-Erzählungen eine längere Geschichte, die man als Weiterführung des etwa 100 Seiten umfassenden Entwurfs von Brüste und Eier betrachten kann: Natsu monogatari wurde im Jahr 2019 publiziert. Die Sommer-Erzählungen enthalten als ersten Teil des so betitelten Buchs den Text Chichi to ran in erweiterter Form; die kürzere Prosa, die in die Sparte Prekariatsliteratur fällt und die man als Aufzeichnungen aus dem Alltag einer nicht privilegierten Familie in Japan bezeichnen könnte, stammt aus der Dekade der Neuen Armut, in der sich die Literaturszene des Landes mit der zunehmenden Prekarisierung eines Teils der Bevölkerung auseinandersetzte. Während Teil eins also im Sommer 2008 spielt, schildert der zweite Teil der Familienchronik der Natsumes aus der „Unterstadt“ Ôsakas die Entwicklungen vom Sommer 2016 bis zum Sommer 2019. Stimme ist die zweite Tochter, Natsuko. Zu der seit geraumer Zeit nur aus Frauen bestehenden Familie zählen Natsuko, die neun Jahre ältere Schwester Makiko, deren Tochter Midoriko sowie die Mutter der Geschwister und deren Mutter, Komi. „Mutter“ und „Komi“ sind zum Zeitpunkt der ersten Notizen bereits tot, werden aber oft erinnert.
Krankheitssymptome der japanischen Familie
Die große Narration vom Erfolgsland Japan und seiner glücklichen Nationalfamilie hatte mit dem „Platzen der Bubble-Wirtschaftsblase“ Ende der 1980er Jahre ihre Strahlkraft eingebüßt. Anlässlich der Strukturreformen unter Premierminister Koizumi (2001-2006), bei denen viele Arbeitsplätze verloren gingen, verschlechterten sich die Lebensbedingungen. In der japanischen Gesellschaft traten die Brüche nun deutlich zu Tage. Die Autorin Kawakami Mieko beschreibt den Blick auf dieses dunkle Japan in der Heisei-Ära durch die Augen „armer Japaner“: Sie haben kein „schönes Fenster“, sondern ein „schwarzes Glasbrett hinter Schränken und Regalen“ oder „ein schmutziges Viereck neben dem fettverkrusteten Küchenventilator“. Kawakamis Familie Natsume hatte nie gute Aussichten. Die Startbedingungen waren schon nicht ideal. Der Vater, den die Protagonistin Natsuko als Kind sehr fürchtet, ist ein Tyrann und Taugenichts. Offenbar ein kleiner Mann mit Napoleon-Komplex. Als er sich eines Tages – unter Hinterlassung seines schmutzigen Futons – absentiert, freut sich die Grundschülerin. Ein paar Wochen später flieht die Mutter mit den Geschwistern Makiko und Natsuko zur Großmutter Komi, wahrscheinlich weil sie Schulden nicht tilgen konnte. Durch den hastigen Aufbruch, bei dem sie ihren geliebten Ranzen zurücklassen musste, erleidet das jüngere Mädchen einen Schock. Zusammen mit Komi haben die vier einige gute Jahre, an die sie sich immer wieder mit Sehnsucht erinnert. In diversen Aushilfejobs und nachts als Bardame verausgabt sich die Mutter jedoch über ihre Kräfte; sie erhält eine Brustkrebsdiagnose und stirbt, als Natsuko erst dreizehn ist. Die Großmutter folgt ihr zwei Jahre später – im Alter von siebzig erliegt auch sie einer Krebserkrankung. Makiko sorgt nun für ihrer beider Lebensunterhalt. Als Hostess geht sie dabei den Weg der früh gestorbenen Mutter, zumal auch sie – ohne die Sicherheit einer funktionierenden Partnerschaft – ein Kind, Tochter Midoriko, bekommt.
Natsuko zieht nach Tôkyô. Sie möchte als Schriftstellerin reüssieren, hat sich aber „mit Gelegenheitsjobs über Wasser“ zu halten, weil sie über keine Rücklagen verfügt und keine Verwandten hat, die ihr helfen könnten. Makiko besucht ihre Schwester. Ihr Wunsch und der Grund für den Besuch in der Hauptstadt ist es, sich per Schönheitschirurgie die Brüste vergrößern zu lassen, ein allein aus finanziellen Erwägungen unrealistischer Wunsch, der in erster Linie auf ihr labiles seelisches Gleichgewicht schließen lässt. Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper repräsentiert ein Psychodrama, das sich zum einen darauf bezieht, dass Makiko auf allen Ebenen Möglichkeiten fehlen, zum anderen durch die Vergangenheit und das traurige Schicksal der an Brustkrebs erkrankten Mutter bedingt sein mag.
Kein neuer Mensch …
Makikos Tochter Midoriko durchlebt zu diesem Zeitpunkt gerade eine pubertäre Krise. Sie spricht nicht mehr mit ihrer Mutter, ist ganz in der Menstruationsproblematik gefangen. Für Midoriko zeigt diese Funktion des weiblichen Körpers nur auf, welche Zumutung das Dasein insgesamt bedeutet. Sie fragt sich, ob es überhaupt sinnvoll ist, neues Leben zu gebären: Wenn man schwanger wird, kommt ein essender und denkender Mensch dazu.“
Chichi to ran handelt also von einer im japanischen Patriarchat defizitär angelegten weiblichen Selbstwahrnehmung, um sich dann einer großen Sinnfrage, nämlich der der menschlichen Existenz als solcher zu widmen. Die überlieferte buddhistische Weltskepsis und moderne antinatalistische Positionen verschränken sich, wenn sich die Protagonistin in Natsu monogatari weiter der Frage stellt, ob ihr immer dringlicher werdender Wunsch (sie ist nun schon über Mitte dreißig) nach einem eigenen Kind gerechtfertigt ist und ob man diesem ins Leben gerufenen Nachkommen denn nicht Leid und Qualen zumute, die ihm besser erspart geblieben wären. Zen Yukiko, eine interessante Nebenfigur, transportiert derlei Überlegungen, die im Übrigen aktuell in Japan en vogue sind. Natsuko denkt bei ihrem Vorhaben, schwanger zu werden, an eine Samenspende. Männer spielen bei ihr keine Rolle, Sex kann sie nicht das Mindeste abgewinnen. Sie möchte mit Vertretern des anderen Geschlechts möglichst wenig zu tun haben – es ist zu vermuten, dass sie eventuell Missbrauch durch ihren Vater erlitten hat.
... ein Werk wird geboren
Während die Protagonistin bei ihren Erwägungen dem Thema Kind viel Raum gibt, versucht sie zudem, ihre literarischen Ambitionen zu verwirklichen. Erfolge stellen sich ein. Lektorin Sengawa ermutigt sie, das Projekt ihres ersten umfangreichen Romans mit Selbstvertrauen anzugehen – sie sei eine echte Literatin, eine der wenigen, die wohl auf dem Buchmarkt der Bestseller bestehen kann. Weite Teile der Sommer-Erzählungen schildern die einschlägigen Bemühungen Natsukos in Bezug auf ihren Durchbruch als Schriftstellerin, beschreiben Interaktionen zwischen den Autoren und lassen amüsante Details über die aktuellen Bedingungen im Verlagsgeschäft einfließen. Kenner der Szene fühlen sich angeregt, den Figuren reale Personen zuzuordnen.
Auf einer Vortragsveranstaltung, die sich mit dem Schicksal von Samenspender-Kindern befasst, trifft Natsuko auf den sensiblen Aizawa, der als Betroffener seinen Werdegang kommentiert. Sie erweckt das Interesse des großgewachsenen Arztes und Absolventen der Universität Tôkyô mit musischen Neigungen (ein romantischer Idealtyp im Frauenmagazin-Format). Am Ende des Texts hat die Erzählerin ihre Aufgabe als Schriftstellerin bewältigt. Aizawa bietet ihr schließlich eine Samenspende an, und sie wird schwanger. Auf den letzten Seiten erfährt man von der Geburt des Babys und wie bislang unbekannte Gefühle die Protagonistin überwältigen, als sie endlich „ihrem Kind begegnet“.
Format, Philosophie und Funktion
Kawakamis Text bietet anregende Lektüre. Wie viele andere Beispiele der aktuellen japanischen Literatur zeichnet er sich neben der psychologischen Beobachtungsgabe vor allem durch seine zeitdiagnostische Qualität aus. Autoren greifen in Japan gerne auf journalistische Anregungen zurück und setzen einschlägige Themen und Stichworte der Medienberichterstattung in ihren Werken um: Literatur dient als Plattform für die Diskussion gesellschaftlichen Wandels. Wie taktgenau man dabei der Presse folgt, lässt sich an der unterschiedlichen Themenwahl in Teil eins und Teil zwei der Sommer-Erzählungen ablesen. Das besonders um das Jahr 2006 prominente Prekariats-Narrativ mit seiner Dunkelheitsmetaphorik wird eine Dekade später von der neueren Debatte um Asexualität, Kinderwunsch und Kinderlosigkeit – angereichert mit gegenwärtigen Geschlechteridentitäts-Entwürfen im Zeichen der Diversitätsdebatte – abgelöst. Spätestens seit Beginn der 2010er Jahre ist die Diagnose der pathologischen Sexualabstinenz (sekkusu shinai shôkôgun) vieler japanischer Jugendlicher im Gespräch. Schon länger bekannt waren die sexless couples, Ehepaare, die auf Geschlechtsverkehr verzichten; eine im Zusammenhang mit dem Populationsschwund der Bevölkerungen hochtechnologisierter Länder durchgeführte Studie der Japanischen Familienplanungs-Assoziation (JFPA) von 2016 kommt zu dem Ergebnis, dass fast die Hälfte aller japanischen Paare zu diesem Verhalten neigen. Die neuere Variante eines freiwilligen social distancing, die bis in intimste Bereiche der Humanbiologie vordringt, ist die künstliche Samenzufuhr. Frauen ohne Partner erhalten mit ihr die Chance, sich als Mütter zu verwirklichen. Eine dänische Firma aus Arhus, die Cryos Samenbank, positionierte sich früh auf dem japanischen Markt und bediente diesen zeitgemäßen fertility trend. Landeseigene Spender bewegen sich auf juristisch unsicherem Gebiet. Kawakami informiert angelegentlich über die Materie, indem sie unter anderem im Text von einer Veranstaltung berichtet, auf der sich Vortragende und Zuhörer über „neue Eltern und Kinder“ sowie über die „Zukunft des ‚Lebens‘“ austauschen.
Hinsichtlich der Zusammenstellung der zwei nicht ganz reibungslos fusionierenden Texteinheiten könnte man nun fragen, ob Kawakamis Verlag die beiden Stücke, die zunächst wohl eine etwas unterschiedliche Tonart aufwiesen, zu einem Langformat montiert hat, nur um mit dem gerade global so beliebten „Roman“ neue Kundenkreise zu gewinnen. Abgesehen von der etwas aufgesetzten Genre-Deklaration, die nun noch der deutsche Verlag anbringt, ist die Bewertung des Buchinhalts in der Redaktionsprosa eher unzutreffend. Man erkennt eine „weibliche Unterdrückung im heutigen Japan“, die „alles Körperliche tabuisiere“. Eine dem europäisch-christlichen Puritanismus vergleichbare tiefe Ablehnung des Sexuellen hat es in der japanischen Kulturgeschichte nie gegeben. Aktuelle Formen der im Text beschriebenen Sexualabstinenz sind wohl vorrangig den sozio-ökonomischen und sozialpsychologischen Gegebenheiten der zeitgenössischen globalisierten Gesellschaft mit ihren zunehmend repressiven Strukturen anzulasten, als dass sie japanische Muster spiegelten. Ein Faktor, der das japanische Kollektiv zusätzlichem Stress aussetzt, bleibt die Beeinträchtigung durch die Geschehnisse von Fukushima. Die Autorin spricht die Katastrophe vom 11. März 2011 an, indem sie Natsuko ihren Debut-Erzählband kommentieren lässt, der nach „Fukushima“ durch eine Fernseh-Rezension zu unerwartetem Erfolg gelangte. Lektorin Sengawa führt die hohen Verkaufszahlen auf die Thematik der Todesüberwindung bzw. die tröstliche Aussicht auf ein Leben nach dem Tod zurück, die zur damaligen Zeit den Nerv des Publikums getroffen hätte.
Kawakami fügt an dieser Stelle ein Moment der schriftstellerischen Selbstreflexion ein: Erfolg nach „Fukushima“ erzielte man am besten mit Trost (Stichwort iyashi) für eine verstörte Nation, und so wurde die Poetin nolens volens zur Bibliotherapeutin. Die etablierte Distanz hier und an anderer Stelle ist es, die die Wende von einer Erzählung belastender Erfahrungen eines Mädchens in prekären Milieus hin zur fast märchenhaften Selbstverwirklichung einer erfolgreichen Schriftstellerin rahmt; damit gibt das Sprachgewebe Hinweise auf seine Hyperrealität. Man muss natürlich auch bei japanischen Künstlern und Künstlerinnen von einem komplexen literarischen Spiel ausgehen. Kawakami spricht in Chichi to ran zwar vordergründig, aber eben nicht nur von Traumatisierungen durch Armut, Krankheit und männliche Gewalt. In Natsu monogatari schreibt sie in der Tat über eine Autorin, die „ihr Kind“ ohne Zutun eines Mannes auf die Welt bringen will, weist allerdings in einer allegorischen Ebene auf mehr als die biologische Geburt eines Babys hin. Kawakami Mieko folgt hier dem Pfad von Meister Murakami Haruki. Das äußere Geschehen dient oft als Wortmantel für Entwicklungen im Inneren der Fokusfigur: Geboren wurde zugleich das Sprachkunstwerk der Schriftstellerin – einzig und allein aus ihr selbst, was eine Befreiung und „Heilung“ ihrer Psyche mit sich bringt. Als sie auf das semi-parthenogenetisch erzeugte Baby blickt, erkennt und akzeptiert sie ihr eigenes, neugeborenes Ich.
Kawakami Mieko: „Brüste und Eier“. Roman Aus dem Japanischen von Katja Busson Dumont Verlag, Köln 2020 496 Seiten, 24,70 EUR
ISBN 978-3-8321-7043-1
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