"Die japanische Originalversion des in der deutschen Ausgabe unter dem Titel Die einsame Buchhändlerin von Tokio. Mein Jahr der magischen Begegnung mit Büchern und Menschen erschienenen Bandes von Nanako Hanada lautet Deaikei saito de 70nin to jissai ni atte sono hito ni aisou na hon o susumemakutta 1 nenkan no koto (2018; „Wie ich mich ein Jahr lang mit 70 über ein Internet-Kontaktforum vermittelten Menschen traf und jeder Person dabei eine für sie passende Buchempfehlung mitgeben konnte“). Hanada schildert das erzählende Ich (offenbar ihr Alter Ego) als berufstätige Frau, die impulsiv ihren (chronisch desinteressierten) Mann verlässt. Bedingt durch ihre plötzliche Flucht und die aus der Krise resultierende zeitweise tiefe Verzweiflung gerät die Buchhändlerin kurzfristig in den Prekariatsmodus: Um Geld zu sparen, übernachtet sie an wenig gemütlichen Orten. Dann macht sie die Trennung offiziell und zieht in eine neue Unterkunft außerhalb von Yokohama. Die Enddreißigerin will die Zäsur nutzen, um ihr Leben grundlegend zu verändern. Neuorientierung und Selbstoptimierung jenseits von Ehe und Arbeitsstelle sind die Ziele, denn auch im beruflichen Bereich empfindet die Frau, Filialleiterin einer bekannten Buch- und Lifestyle-Accessoire-Kette, wachsende Unzufriedenheit [...]
Die „Suche nach dem Selbst“ (jibun sagashi) und nach dem, was man wirklich „machen will“ (yaritai koto), stellt einen signifikanten Trend der japanischen Gesellschaft seit den 1980ern dar, nicht zuletzt angefacht von offiziellen und konzerngesteuerten PR-Kampagnen, der Lifestyle-Industrie und der Lebensberatungsbranche. Was zunächst im Kontext der Esoterikströmung der 1980er begann, entwickelte sich in der Heisei-Ära (1989-2019) zum medial vielfach verlautbarten Muster für individualistische Lebensmodelle. Als erstrebenswert galten kreative Jobs jenseits des stark normierten Geschäftsmann- und Angestelltenalltags der salary men oder die Eröffnung eines eigenen Ladens bzw. einer der Enklaven, in denen man seine ideale Umgebung ausgestalten und als Dienstleistung anbieten kann."
Lisette Gebhardt für literaturkritik.de, 16. August 2024
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